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ThinkTech #2: Technisierung und Digitalisierung

Warum der Begriff Technisierung in der Digitalisierung eine Rolle spielen könnte und welche Bedeutung er hat, erfahrt ihr in diesem Beitrag.

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Im heutigen Technikphilosophie-Beitrag soll es um einen Begriff gehen, der im ersten Augenblick etwas radikal anmutet: Technisierung. Wenn man dieses Wort so hört, werden denke ich bei den meisten Assoziationen geweckt wie: 

  • eine Gesellschaft in der Technik die zentrale Rolle im Alltag einnimmt
  • eine Menschheit, welche sich von der Natur abgewandt hat und nicht mehr mit ihr im Einklang lebt
  • dystopische Zukunftsfantasien á la Black Mirror, Brave new World, Blade Runner etc. 

Doch um das alles soll es heute nicht gehen. In diesem Blog möchte ich euch gerne zeigen, dass das Phänomen der Technisierung auch anders verstanden werden kann, als unter dem Gesichtspunkt der Antithese “Natur-Technik”, oder dem generellen Stellenwert von Technik in einer Gesellschaft. Dabei möchte ich mich vor allem auf Edmund Husserl beziehen, welcher diesen Begriff besonders geprägt hat. Die im ersten Think-Tech Beitrag bereits angeschnittene Frage nach dem Wesen der Technik wird uns dabei weiterhin begleiten.

Die Technisierung bei Husserl

Edmund Husserl gilt als der Begründer einer der wichtigsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, der sogenannten Phänomenologie. In seinem äußerst umfangreichen Werk stellte sich Husserl eigentlich vor allem die Frage nach dem Wesen des Bewusstseins und versuchte eine vorurteilsfreie Erkenntnislehre zu entwickeln. Allerdings findet sich, vor allem in seiner Schrift “Die Krisis der europäischen Wissenschaften”, auch eine Charakterisierung der Technik, welche eng mit dem Ausdruck Technisierung verwoben ist.

Um der Husserlschen Technisierung etwas näher zu kommen, gilt es denke ich zunächst zu bemerken, dass Husserl mit seinem Verständnis von Technik in erster Linie nicht vom Menschen geschaffene Gegenstände, wie einen Laptop oder ein Auto, im Auge hatte, sondern die Technik allen voran in der Struktur des Bewusstseins eingebettet sieht. Husserl sieht die Technik in erster Linie im Verhältnis des Menschen zur Welt begründet und die Technik kann dabei, vereinfacht gesagt, als ein Sammelsurium von Mechanismen, die dem Bewusstsein zugänglich sind, verstanden werden. In diesem Sinne wäre also z.B. das Schnitzelklopfen ebenso eine Technik, wie eine komplexe Webapplikation. 

Der Begriff der Technisierung hat nun bei Husserl eine relativ spezifische Bedeutung. Es geht ihm dabei weder um einen vermehrten, vielleicht sogar übertriebenen Einsatz von Technik, noch um einen besonderen bzw. problematischen Stellenwert, den Technik, bzw. Technologie für den Menschen hat. Husserls Technisierung beschreibt vielmehr einen Prozess der Abstraktion, in welchem ein Verfahren, welches zur Lösung eines konkreten Problems dient, zu einer nicht an spezifisches Wissen gebundenen Methode generalisiert wird. Diese zugegebenermaßen etwas sperrige Definition illustrierte Hans Blumenberg besonders schön am Beispiel der Klingel: Technisierung wäre hier die Entwicklung der Klingel von ihrer früheren Form als Zug- oder Drehklingel, bei welcher das Geräusch noch vom Menschen selbst hervorgebracht werden musste, hin zur Auslösung der Klingel per Betätigung eines Knopfes, der sich von anderen Knöpfen wie zum Anschalten des Lichts, nicht unbedingt unterscheiden muss. 

Was denke ich für Husserl dabei entscheidend ist, ist, dass im Zuge dieser Technisierung einige der zugrundeliegenden bzw. ursprünglichen Mechanismen dem Bewusstsein nicht mehr unmittelbar zugänglich sind. Husserl spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Prozess der Sinnentleerung, der vor allem in den Wissenschaften zum Problem wird und der mit ein Grund ist, warum Husserl von der “Krisis der Wissenschaften” spricht. 

Reaktionen auf Husserl

Aus den vielen Bezugnahmen zu Husserls These, möchte ich hier vor allem jene von Hans Blumenberg erwähnen. Blumenberg stimmt Husserl grundsätzlich in seiner Charakterisierung der Technisierung zu, allerdings bewertet er die Sache etwas anders. Während Husserls Analyse mehr einem pathologischen Befund gleicht, sieht Blumenberg die Technisierung als eine grundsätzliche Tendenz im menschlichen Denken, bzw. als eine natürliche Form der Problemlösung. Außerdem denkt er den Zusammenhang zwischen Technisierung und Lebenswelt eine Spur komplexer als Husserl. Während bei Husserl die Technisierung in erster Linie dazu führt, dass Methoden nicht mehr in der Lebenswelt fundiert sind, wirft Blumenberg ein, dass die Lebenswelt ebenso maßgeblich durch Technisierung beeinflusst wird.

In Anknüpfungen zu Blumenbergs Ausführungen spricht Bernhard Waldfels im Weiteren auch von einem “hypermodernen” Paradigma: Die Technik wird zur Quasi-Natur, weil der Gegensatz zwischen einer natürlichen Entstehung und der künstlichen Herstellung durch die Technisierung gewissermaßen neutralisiert bzw. relativiert wird. 

Technisierung und Digitalisierung 

An den Computer, geschweige das Internet konnte Husserl Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Technikkritik natürlich noch nicht denken. Dennoch lässt sich der hier skizzierte Technisierungsbegriff denke ich wunderbar auch auf das Zeitalter der Digitalisierung anwenden. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass in digitalen Produkten bzw. Technologien die Technisierung besonders deutlich und zum Vorschein tritt, da die beschriebene Denkfigur der Abstrahierung und Funktionalisierung einer Methode allgegenwärtig in jeder Form von Informationsverarbeitung ist und deren Wesen geradezu bestimmt. 

Nehmen wir zur Veranschaulichung die Entwicklung von Webanwendungen. Ich denke es lässt sich sagen, dass es ein allgemein anerkanntes Prinzip der Softwareentwicklung ist ein bestimmtes Problem nur einmal zu lösen und allgemeine bzw. abstrakte Lösungen schaffen, welche vielfältig einsetzbar sind. Kurz: man will das Rad nicht ständig neu erfinden. 

Auch wir bei Liechtenecker versuchen natürlich immer Code zu schreiben, welcher wiederverwendbar ist und bauen dabei immer auch auf bereits existierende Fundamente auf, anstatt alles “from scratch” zu lösen. Technisierung ist also nicht nur mit unserer Arbeit als Web-Developer auf irgendeine Art verwoben, sondern vielmehr ein bewusst gestecktes Ziel, das es zu erreichen gilt. Je höher der Grad an Technisierung, umso besser, könnte man fast sagen. Ich möchte an der Stelle auch die (durchaus gewagte) These in den Raum stellen, dass es dieses Streben nach einer Maximierung der Technisierung vor der Digitalisierung nicht gab. Um das zu rechtfertigen, müsste man vermutlich eine eigene Arbeit schreiben, deswegen möchte ich gar nicht näher darauf eingehen. Vielleicht gibt es ja unter den Leser:innen in dem Punkt auch Gegenmeinungen, ich freue mich auf jede Rückmeldung!

“Technisierung kann neuen Handlungsspielraum schaffen, indem sie von generellen Aufgaben befreit”.

Die große Frage, die aus meiner Sicht offen bleibt ist nun wie wir die Technisierung werten sollten, bzw. wie wir damit umgehen sollten. Ich persönlich tendiere dabei eher zu Blumenbergs Standpunkt, dass die Technisierung bereits in unserer Art rational zu denken angelegt ist, anstatt sie wie Husserl als ein Übel unserer Zeit bzw. der Moderne zu diagnostizieren. Es sollte finde ich auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Technisierung, gleichwohl sie zugrundeliegende Mechanismen verdeckt, immer auch neue Möglichkeiten hervorbringt. Wenn wir bei unseren Webprojekten also auf etablierte CMS-Lösungen wie Drupal, oder Frameworks wie Angular und Laravel setzen, dann vor allem aus dem Grund um den Fokus auf die projektspezifischen Anforderungen legen zu können und ein möglichst maßgeschneidertes Endprodukt bieten zu können. In diesem Sinn kann also denke ich Technisierung neuen Handlungsspielraum schaffen, indem sie von generellen Aufgaben befreit und direkt bei spezifischen Problemen begonnen werden kann. Es ist dabei denke ich dennoch wichtig sich diese Prozesse immer wieder bewusst zu machen und sich im Klaren zu sein, dass sich “unter der Haube” immer auch Mechanismen befinden, die man nicht im Detail kennt. 

Wie seht ihr das? Ist es gut immer mehr Technisierung anzustreben, oder sollte es ab einem gewissen Punkt eine Grenze geben? Schreibt es mir doch in die Kommentare!

Für Interessierte hier noch die Quellen, sowie Empfehlungen zu dem Thema:

Wirklichkeiten in denen wir leben, Hans Blumenberg, Reclam 19986

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Fabian Schiel

Meine Rolle bei Liechtenecker: Backend-Dev Wenn es weder IT noch Digitalisierung gäbe, wäre mein Beruf: Nomadisch lebender Philosoph Mein Herz schlägt für: Hummus, Dune, Delay-Effektgeräte

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