Von der Zuhandenheit des Webs
In unserem bereits dritten Think Tech Beitrag widmen wir uns dieses mal der Zuhandenheit des Webs und der Frage, ob User:innen beim Verwenden einer App überhaupt über deren Sinn und Zweck nachdenken.
Denken Benutzer:innen beim Verwenden einer App über deren Sinn und Zweck nach? Kann eine App überhaupt verstanden werden, ohne sie jemals benutzt zu haben?
Dass solcherlei Fragen sowohl für UX-Designer:innen, wie für philosophisch Interessierte von Belang sein können, möchte ich im heutigen Think-Tech Beitrag „Von der Zuhandenheit des Webs“ zeigen.
Den Anstoß zu unseren Überlegungen soll dabei der Schüler des im letzten Think-Tech-Blogbeitrag besprochenen Denkers liefern, nämlich Martin Heidegger. Dieser hat den Begriff der Zuhandenheit geprägt, den ich versuchen möchte, auf das Web anzuwenden.
Wie definiert man Zuhandenheit?
Was soll dieses seltsame, sperrige Wort nun bedeuten? Heidegger selbst liefert zur Veranschaulichung das Beispiel des Hammers. Nach Heideggers Auffassung wird das Wesen des Hammers nicht durch eine theoretische, bzw. äußerliche Betrachtung erfasst.
Es nützt also nichts den Hammer auf seine materiellen Beschaffenheiten zu reduzieren, oder über seinen Fertigungsprozess nachzudenken, um ihn zu verstehen. Die “ursprüngliche” Bedeutung des Hammers kann nur im Akt des Hämmerns, also im gebrauchenden Umgang mit ihm entdeckt werden.
Nur hier zeigt sich für Heidegger der gerichtete Zweck, bzw. in seiner Formulierung das “Um-zu” des Hammers, welches für dessen Sinn konstitutiv ist.
Heideggers „Hammer“
Die Zuhandenheit ist nun Heideggers Begriff für diesen Zugang zum Hammer. Der Neologismus rührt auch daher, dass er bewusst als Gegensatz zur einfachen Vorhandenheit gewählt wurde. Heidegger grenzt dabei ein Ding, welches bloß vorhanden ist, von einem “Zeug” ab, welches zuhanden ist. Man könnte das, wie ich finde, durchaus sehr wörtlich auslegen, um die Sache noch anschaulicher zu machen.
Die Vorhandenheit eines Dings wäre dann etwas, das lediglich “vor” der Hand sein muss um erkannt zu werden, während die Zuhandenheit fordert, dass das Zeug “zur” Hand ist, kurzum es muss angepackt und damit hantiert werden.
Zeug vs. Ding
Wichtig scheint mir dabei zu betonen, dass es in der Unterscheidung von Zeug und Ding auch sehr um das “Um-zu”, ankommt, welches dem Zeug im Gegensatz zum Ding anhaftet
Dass diese Charakterisierung des Zeugs als ein Zuhandenes für einen physischen Gegenstand wie den Hammer gelten könnte mag ja einleuchten und eine Ausweitung auf die Utensilien unseres modernen Alltags wie Laptop und Smartphone scheint auch nicht komplett abwegig, aber wie steht es denn nun mit Software oder dem Web?
Kann eine Webapplikation, welche sich in einer rein virtuellen Sphäre befindet und deren individuelle Funktionalität gewissermaßen auch von der haptischen Bedienbarkeit abgekapselt ist, wirklich in diesem Sinn zuhanden sein?
Bei der Husserl’schen Analyse der Technisierung, die im letzten Think-Tech-Blogbeitrag thematisiert wurde, haben wir vielmehr gesehen, dass eine Trennung der Funktion vom Auslöser und damit von der Bedienung geradezu das Wesen der Technik selbst ausmacht?
Eine App, als konkretes Beispiel
Versuchen wir das Ganze an einem konkreten Beispiel durchzuspielen. Denken wir uns eine App, deren Sinn es ist die schönsten Routen zum Spazierengehen in Wien aufzulisten.
Es wird vermutlich nur durch diesen einen Satz jeder internetaffine Mensch schon eine Vorstellung im Kopf haben wie diese App aussehen könnte.
Nehmen wir nun ferner an, dass wir diese App bereits entwickelt haben und wir als ihre Entwickler:innen, oder Designer:innen aufgefordert werden, ihre Funktion so genau wie möglich rein theoretisch zu beschreiben. Wir könnten dazu die App Screen für Screen exakt beschreiben und Features sowie Flows genau erklären.
Es ließe sich etwa sagen, dass es in unserer App eine Suchfunktion gibt, damit User Wege finden können und dann weiter spezifizieren, dass es dafür auch gewisse Filter gibt, damit die Suche z.b. auf bestimmte Bezirke eingegrenzt werden kann.
Die verschiedenen Möglichkeiten
Wir könnten aber auch eine völlig technische Perspektive einnehmen und erläutern, wie die Spazierwege in der Datenbank abgespeichert werden, oder welches Framework im Frontend verwendet wurde.
Wenn man sich genug Zeit nimmt, könnte man also jede Komponente in Aussehen, Verhalten, Funktion, sowie ihrer technischen Implementierung vollständig beschreiben, ohne die App jemals dabei geöffnet zu haben.
Wo bleibt also die Zuhandenheit, wenn es so scheint, als könnte eine Webanwendung allein durch theoretische Betrachtung gänzlich erschlossen werden? Fabian Schielzuhandenheit des webs
Dass Heidegger in den 1920er Jahren, als er die hier besprochenen Gedanken in seinem Werk “Sein und Zeit” niederschrieb, noch nicht die digitale Sphäre mitbedenken konnte, mag als Grund dienen, warum es so scheint als wäre der Begriff der Zuhandenheit nicht wirklich auf Software übertragbar. Dennoch möchte ich dem noch ein paar Gedanken entgegenhalten, die zeigen, inwiefern der Begriff dennoch von Relevanz sein könnte.
Zunächst stellt sich denke ich die Frage, ob die Verwendung der App nicht auch bei einer theoretischen Beschreibung eine bedeutende, wenn nicht sogar die zentrale Rolle einnimmt.
User(inter)aktion als wichtiger Schlüsselbegriff
Wird nicht selbst bei dem Erklären von Flows und Screens immer eine Aktion des Users zugrunde gelegt und zumindest gedanklich vollzogen? Ist die User(inter)aktion nicht gerade einer der wichtigsten Schlüsselbegriffe für eine gelungene UX?
Gewiss handelt es sich dabei nicht um eine “echte” Handlung, wenn man sie nur vorgestellt, da über das wirkliche Ergebnis nur eine Annahme getroffen werden bzw. ein Soll-Zustand definiert werden kann.
“Die fertige App ist immer “mehr” als theoretisch definiert werden kann. Fabian Schielinsight
Bedarf es einer praktischen Ausführung?
Das bringt uns auch direkt zu einem zweiten Punkt: Kann eine Applikation wirklich jemals vollständig durchdacht werden?
Zeigt uns nicht gerade der hohe Stellenwert von Testing in der Softwareentwicklung, wie unzureichend die theoretischen Betrachtungen sind und wie sehr es nicht einem praktischen Ausführen der App bedarf?
Mein Fazit
Ich persönlich gehe sogar soweit zu sagen, dass die fertige App immer “mehr” ist als theoretisch definiert werden kann. Auch wenn man alle Eventualitäten abtestet – man ist nicht davor gefeit, dass etwas passiert, was man nicht vorhersehen konnte.
Bei einer simplen Anwendung mag es vielleicht noch möglich erscheinen, vorab alle möglichen Use-Cases zu definieren & alles andere programmatisch auszuschließen. Je komplexer eine Applikation wird, desto unwahrscheinlicher wird es meiner Ansicht ein unerwünschtes Verhalten von vornherein auszuschließen. Testen wird also immer unvermeidlich bleiben.
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