Wir beschäftigen uns seit einiger Zeit intensiv mit Speculative Design. Wir machen Workshops dazu und haben auch schon an unterschiedlicher Stelle dazu geschrieben oder präsentiert. Auch beim UX Meetup, das wir im Jänner hosten durften, haben wir das Thema der Community vorgestellt.
Immer wieder kommen trotz Begeisterung über die Methode einige Fragen auf. Die Dringlichste: Wie rechtfertige ich eine Investition in Speculative Design?
Die Antwort darauf lautet: Es ist aus mindestens vier Gründen für dein Business relevant.
Denn mit Hilfe von Speculative Design…
- … können Unternehmen agieren statt nur nur auf technologische Entwicklungen zu reagieren.
- … bekommen Entscheider die Möglichkeit Digitalisierung in einem größerem Rahmen zu sehen.
- … kann dieses Big Picture für alle Menschen im Unternehmen fühlbar gemacht werden.
- … werden nachhaltigere User Experience und individuellere digitale Produkte möglich.
Ich gehe auf die einzelne Punkte in Folge genauer ein. Davor jedoch noch eine kurze Zusammenfassung zum Thema Speculative Design.
Was ist Speculative Design
Mit Hilfe von Speculative Design, können wir uns nicht nur ansehen was mit neu aufkommenden Technologien möglich sein wird, sondern überlegen uns auch welche Implikationen sie mit sich bringen – wie sich unsere Gewohnheiten ändern werden, wenn eine neue Technologie in unserem Alltag angekommen ist. Welche neuen Probleme, Bedürfnisse, Ängste und Werte werden wir dadurch haben? In welcher Zukunft wollen wir überhaupt leben?
Wir springen in mögliche Zukünfte – ja, Mehrzahl – sehen uns dort um, und designen sogenannte Artefakte, die uns im Heute zeigen, wie sich die eine oder andere Zukunft denn tatsächlich anfühlen wird.
Das ist meiner Meinung nach, das Spannendste an dieser Methode. Wir können beispielsweise noch so sehr theoretisieren über autonomes Fahren, oft bleiben komplexe Themen für uns nicht greifbar, solange wir es nicht irgendwie selbst ausprobieren können. Als etwas Neues aber dennoch Normales im Heute.
Meine Kollegin Maja hat das in einem Beitrag sehr treffend folgendermaßen beschrieben:
Wir müssen den Betrachtern helfen, das Ungewisse zwischen ihrem jetzigen Ich und ihrem zukünftigen Ich zu überwinden, um heute zu verstehen was in zehn Jahren denkbar ist.
Dabei geht es aber nicht darum, die Zukunft vorauszusagen. Vielmehr ist es wichtig sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und auch andere dazu zu bringen, darüber nachzudenken, wie sie die Zukunft sehen bzw. nicht sehen wollen.
Das gilt für einzelne Menschen und für Unternehmen als Ganzes. Wobei diese Trennung eigentlich unsinnig ist, denn in Unternehmen arbeiten Menschen (noch).
IKEA macht es vor
Entscheider brauchen oft ein paar Best Practice Cases um sich über Neues zu trauen, schließlich geht es hier um Investitionen für die man gerade stehen muss. Wenn es andere bereits machen, sollte man vielleicht hinsehen. Dass die großen GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) Unternehmen über Zukünfte spekulieren und wie sie diese gestalten können ist jedem klar. Irgendwie scheint man das zu akzeptieren und als logisch für ihre Branche erachten. Sei es eine Zustellung per Lieferdrohnen bei Amazon oder eine Welt ohne Kabel bei Apple, um nur exemplarische Beispiele zu nennen. Deren Zukunftsvisionen werden dann auch gerne als gesetzt anerkannt und oft wird ohnmächtig zugesehen oder hechelnd hinterhergehetzt.
Wie auch Nicht-Technologieunternehmen an einer Vorstellung unserer schönen neuen Welt arbeiten können zeigt Ikea. Mit dem hauseigenen Lab Space10 wird regelmäßig über die Zukunft spekuliert und darüber, wie wir in etlichen Jahren Leben werden. Eine Sache, die höchst business-relevant ist für den Möbelriesen, denn Ikea gestaltet unseren Lebensraum. Das umfasst viel mehr als nur Möbel.
Wie viel mehr sieht man in den Projekten von Space10. Ein Aktuelles beschäftigt sich mit oben erwähnten selbstfahrenden Autos.
In dem Projekt Spaces on Wheels wird eine Welt präsentiert, in der man sich selbstfahrende Räume via App zu sich bestellt. Auf dem Weg in die Arbeit im selbstfahrenden Kaffeehaus sein Frühstück genießen. Oder sich seine kleine „Farm“ vorfahren lassen, um das frischeste Gemüse selbst zu ernten. Autos sind somit keine einfachen Vehikel sondern Räume. Um das erlebbar zu machen, hat man jedoch nicht nur ein Paper erstellt, wo man Überlegungen nachvollziehen kann, sondern man hat eine App gebaut, die genau das ermöglicht. Ein spekulatives Design-Artefakt, das wie Uber funktioniert und sich so anfühlt.
Öffnet man die App, wird auf den Standort zugegriffen und man sieht eine Karte mit kleinen sich bewegenden Autos darauf, wie man es von Uber oder MyTaxi kennt. Wählt man das gewünschte Auto und die Uhrzeit, zu der es vorbeikommen soll, bekommt man auch gleich die Bestätigung und kann beobachten, wie es sich seinen Weg durch die Straßen bahnt. Vor Ort angekommen, wird man gebeten einen freien Parkplatz zu suchen, um das Auto zu „parken“, was bedeutet, dass man es via Augmented Reality Funktion platzieren kann wo man möchte. Und dann steht es vor einem. Man kann drum rum gehen und durch die Fenster reinsehen.
Das habe ich gemacht und ich habe das erste Mal richtig erfahren, wie sich eine Zukunft mit selbstfahrenden Autos anfühlen könnte. Welche Möglichkeiten darin bestehen und was es mit meiner Realität macht. Kein einziger Artikel über selbstfahrende Autos, kein einziges echtes selbstfahrendes Auto, das man bisher erleben kann hat das bisher geschafft – weil sie allevom Heute aus gedacht werden und daher auch wie Autos nur ohne Fahrer funktionieren. Das Auto von IKEA hingegen ist von der Zukunft für mich ins Heute gebracht worden.
4 Gründe für Speculative Design in Unternehmen
1. Agieren statt Reagieren
Vor einigen Jahren waren Unternehmen in unseren Breitengraden noch sehr zaghaft mit Experimenten. Trial & Error hat man maximal einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung zugestanden, sofern man eine hatte.
Die Digitalisierung bringt neue Geschwindigkeiten. Abzuwarten wie sich so manche Technologie entwickelt, kann auch bedeuten von jenen massiv überholt oder obsolet gemacht zu werden, die sich ihrer von Beginn an bedienen. Daher ist es höchst begrüßenswert, dass Unternehmen sich immer mehr an Testprojekte wagen, mit offenen Ergebnis, um neue Technologien anzuwenden. Ob das nun unter dem Begriff Lab gemacht wird oder nicht, ist irrelevant, Hauptsache es wird gelernt. Das alles ist und bleibt aber meist nur eine Reaktion auf aktuelle technologische Entwicklungen und Zukunftsvisionen. Getrieben oftmals von wenigen großen Konzernen aus einer Branche.
Wenn Unternehmen nun auch einen Schritt weiter gehen und sich von den Zukunftsvisionen der Technologieriesen emanzipieren, so können sie mit Blick auf Digitalisierung agieren statt nur zu reagieren. Sie werden selbstbestimmter, handlungsfreier und selbstwirksamer was die Zukunft betrifft. Für ihr Unternehmen, für die Menschen darin und für ihre Kunden.
Speculative Design ist eine Methode genau dafür. Das Beispiel Ikea zeigt, dass der schwedische Konzern nicht darauf wartet bis irgendjemand – sei es Google, Tesla, BMW und Co – selbstfahrende Autos einrichten möchte. Sondern erschafft selbst Visionen dieses Aspekts der möglichen Zukunft, die mit den eigenen Werten gestaltet werden.
Das bedeutet nicht, dass Ikea die Technologie hinter selbstfahrenden Autos entwickeln wird. Stattdessen wird ein Blick darauf geworfen, wie sich ihr Unternehmen dadurch wandeln bzw. erweitern wird. Bedenken wie, „Wir kennen uns mit der Technologie nicht aus und sie betrifft uns nicht“, gelten so nicht. Denn man muss kein Technologiekonzern sein, um zu verstehen, dass sie Veränderung mit sich bringt, die sich auf alle Menschen auswirkt.
2. Ein Big Picture haben
Mit einem eigenen Blick auf die digitalisierte Zukunft, haben Unternehmen in Folge dann auch einen Kompass in welche Richtung sie gehen möchten. Sie selbst können dann Schritte im heute dafür setzen. Das ist viel mehr als sich durch Trial & Error hetzen zu lassen, auch wenn es viel Versuch und Irrtum, Fuck Ups und Fails dafür brauchen wird. Davor darf man natürlich auch nicht die Augen verschließen..
Aber aus dem Scheitern lernt man dann am besten, wenn man ein Big Picture hat. Eine Vision. Ein Leitmotiv anhand dessen man beurteilen kann, ob man dennoch in die richtige Richtung geht, wenn auch auf Umwegen beziehungsweise noch nicht vorhandenen Wegen. Das wirkt sich auch auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen positiv aus, indem man besser rechtfertigen und entscheiden kann, warum man sie in gewissen investiert und in manche nicht.
3. Unternehmensvision für alle fühlbar machen
Führungskräfte von heute sind hier in der Theorie oft weiter als ihnen nachgesagt wird. Sie beschäftigen sich durchaus mit der Zukunft und was Digitalisierung mit sich bringt. Die Tiefe ist bei jedem unterschiedlich, aber das Thema ist aus meiner subjektiven Erfahrung aus Gesprächen bei vielen schon sehr vorgedrungen und einige haben auch eine gewissen Vorstellung, wie ihr Business in einer digitalisierten Welt funktionieren kann. Zugegeben, noch nicht so im Detail wie es mit Hilfe von Speculative Design möglich wäre, darum ja auch dieser Beitrag.
Gleichzeitig haben jene, die hier bereits sehr weit sind ein Problem: Culture eats strategy for breakfast. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Dinge, die im Führungskreis ausgearbeitet werden oder bereits sehr klar sind, bestmöglich an alle Menschen im Unternehmen kommuniziert werden müssen. Noch besser wäre, wenn es nicht nur kommuniziert wird, sondern wenn alle einbezogen werden. Effizienter wäre es, wenn sich zumindest alle dazu Gedanken machen können und die Vision der Zukunft erleben bzw. erfahren können. Ganz nach Konfuzius der sagte: „I hear and I forget. I see and I remember. I do and I understand.“
Ein Geschäftsführer eines großen österreichischen Unternehmens hat einmal zu mir gesagt: „Wenn ich vor Ort bin, dann kann ich alle mitreißen. Dann sind alle ganz Feuer und Flamme. Sobald ich wieder weg bin, verläuft sich alles im Sand des Alltagsgetriebes.“
Speculative Design kann dabei helfen, dass alle Menschen in einem Unternehmen, die gleiche Vorstellung der Zukunft haben und diese verstehen. Sie bekommen etwas zum anfühlen und begreifen. Nicht zuletzt deswegen, sprechen wir als Liechtenecker von unserer Mission Zukunft fühlbar zu machen. Das ist äußerst kraftvoll, denn dadurch ziehen alle an einem Strang, von ganz oben bis zum/r PraktikantIn. Ikea schafft es mit den Spaces on Wheels sogar die Öffentlichkeit in ihre Zukunft mitzunehmen.
4. Nachhaltige User Experience & individuellere digitale Produkte
Wer schon einmal ein Digitalisierungsprojekt angegangen ist, weiß, dass diese Projekte nicht von heute auf morgen umgesetzt werden. Eine Betaversion oder ein MVP (Most Viable Product) also eine Erstversion launcht meist ab Beginn nach mehreren Monaten. Danach wird weitergearbeitet, verfeinert, Funktionen erweitert und überarbeitet.
Besonders in Zeiten, wo in jedem Projekt Agilität propagiert wird, braucht es auch hier ein Gesamtbild wohin die Reise gehen soll. Eine Anwendung, die jetzt noch am Tablet funktioniert, soll heute schon bedacht haben, dass es in Zukunft vielleicht keine derartigen Devices mehr braucht. Wie sieht dann die Arbeit aus und der Prozess den man damit digitalisiert?
Speculative Design will Zukunftsvorstellungen demokratisieren. Ein anderer Aspekt davon ist aus unserer Sicht, die Demokratisierung von Design. Wer gibt Design Standards der Zukunft vor? Material Design ist ein Design Standard, der von Google entwickelt wurde, der weitgehend User Interfaces von heute geprägt hat. Wer sagt, dass das so sein muss? Hier komme ich wieder auf Emanzipation zu sprechen. Jedes Unternehmen kann sich emanzipieren und eigene Standards setzen.
Ikea kann jetzt schon Möbel designen, die sich auch in fahrbaren Räumen gut verwenden lassen und kann dafür Standards setzen.
Wer mehr zum Thema Speculative UX Design lesen möchte, dem sei hier ein Artikel meiner Kollegin Natalia im UX Collective Magazin ans Herz gelegt.
Ein Aufruf
Zum Abschluss möchte ich noch einen Aufruf starten: Nehmt die Zukunft eures Unternehmens selbst in die Hand. Seid nicht Passagiere oder Requisiten in den Technologietraumschiffen der GAFAs und Start Ups. Lasst euch nicht einreden, dass das nicht geht. Raus aus der Komfortzone! Es wird sich bezahlt machen.
Live erleben
Wer jetzt unbedingt einmal Speculative Design live erleben will, der kann gerne an einem unserer Workshops an folgenden Terminen teilnehmen:
28. März 2019 – Eine Frage der Spekulative #3 – Zukünfte erforschen und erfahren:
In diesem Speculative Design Schnupper-Workshop gehen wir mit dessen Methoden speziell den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung nach. Die Frage, die dabei im Mittelpunkt steht: Wie fühlt es sich an, in dieser zukünftigen Welt zu leben? Pro Workshop fokussieren wir uns auf eine neue, noch nicht marktreife Technologie und durchleuchten die möglichen Auswirkungen in den verschiedensten Facetten.
11. April 2019 – Customer Experience Forum:
Workshop mit Liechtenecker: GET TO THE TOP OF THE PYRAMID
Die Pyramid of Technology zeigt die unterschiedlichen Stadien, die neue Technologien in ihrer Entwicklung durchlaufen. Diese Stadien zu kennen, zu verstehen, und zu wissen wie man diese beeinflussen kann ist essentiell für die Entwicklung von neuartigen Services und deren Customer Experience.
Du willst mit jemanden über das Thema plaudern?
Einen kostenlosen Termin mit CEO Susanne vereinbaren!Vom Projekt zur Partnerschaft Alles über unser UX Abo
Stefan Blumauer, Head of UX Design, erzählt uns über die Vorteile des UX Abos und wie es unseren Kunden hilft, ihre digitalen Produkte kosteneffizient zu optimieren und auf Kurs zu halten.
Jetzt lesenFolge #62 mit Susanne Liechtenecker
In Folge 62 besinnt sich Susanne auf die Anfänge dieses Podcasts und begrüßt keinen Gast, sondern erzählt über das Buch "Jäger, Hirten, Kritiker" von Richard David Precht und warum es sie inspiriert hat.
Jetzt anhören